„Wir sind die Natur“ – Martha Hincapié Charry & Astrid Kaminski im Gespräch

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Drei Personen in heller Kleidung stehen dicht beieinander mittig im Bild und schauen in die Kamera.

 

Martha Hincapié Charry und Astrid Kaminski suchen aus unterschiedlichen biografischen Perspektiven beide die Verbindung zwischen menschlicher und mehr-als-menschlicher-Natur. Im Vorfeld der Aufführung von Hekatombe III im Radialsystem sprachen sie zu Martha Hincapié Charrys künstlerischen und kuratorischen Recherchen sowie zu ihrem Bezug zu europäischem und indigenem Denken und Empfinden. Ein Gespräch über jahrtausendealte Software, den Teufelskreis der Schnelligkeit und Brücken, die es (noch) nicht gibt.
 

Astrid Kaminski: Du sammelst menschliche Rituale und Wissen in Bezug zur Natur. Inwiefern unterscheiden sich Deine künstlerischen Recherchen von jenen von Ethnolog*innen und Anthropolog*innen?

Martha Hincapié Charry: Zunächst einmal bin ich weder das eine noch das andere. Mein Zugang entsteht mehr über Zuneigung als über reine Wissensfragen. Auch fühle ich mich überhaupt nicht einer Tradition der Klassifizierung und Einordnung verbunden, die letztlich, neben der Gier, mitverantwortlich ist für den Umgang mit all den geraubten Objekten in den Museen des Globalen Nordens – und die es so super kompliziert macht, diese zurückzugeben.

AK: Ein wichtiger Bestandteil deiner künstlerischen und kuratorischen Arbeit sind Besuche verschiedener indigener Gemeinschaften, zum Beispiel der Tikuna, Guajajara, Wayúu, Shinnecock, Muruy Muina, Wixarika oder Kággaba. Wie gehst du bei deinen Recherchen vor?

MHC: Meine eigene Kultur, die Quimbaya, ist ausgestorben. Ich kann darüber in Büchern lesen oder Objekte im Museum, wo sie nicht hingehören, betrachten. Das schafft jedoch keine Verbindungen. Für mich fängt alles mit Beziehungen an, mit dem Gefühl füreinander, mit Austausch, mit Freundschaften ... Ich denke, in erster Linie suche ich den Kontakt, um ein wenig adoptiert zu werden. Ich mache immer die Erfahrung sehr liebevoll und offen aufgenommen zu werden. An einem bestimmten Punkt, an dem mich meine Partner*innen besser kennen und ein wenig verstehen, wie ich an meine künstlerische Arbeit heran gehe und warum, kann ich dann sagen: Sollen wir etwas zusammen machen? Es entwickelt sich alles immer sehr organisch.

AK: Wie wichtig ist das Netzwerken zwischen verschiedenen indigenen Gemeinschaften?

MHC: Vor allem auf politischer Ebene ist es wichtig. Die Gemeinschaften sind praktisch gezwungen, sich zu vernetzen, um für ihre Rechte einzustehen. Ansonsten werden sie einfach überrannt von internationalen Unternehmensinteressen. Wobei man sagen muss, dass Mobilität in Abya Yala, den sogenannten Amerikas, anders funktioniert als hier, in Europa, wo die Distanzen, Flüsse und Berge überschaubar sind und alle sich frei bewegen können.

AK: Wieviel läuft über digitale Technologien?

MHC: Das ist natürlich sehr abhängig vom Lebensort der Gemeinschaften. Allerdings ist die Funktionsweise digitaler Technologie, zum Beispiel das Internet, absolut nichts Neues in indigenen Kulturen. Sie hatten das Konzept von solchen Kommunikations- und Austauschnetzwerken schon viel früher.

AK: Du sprichst vom Zugang zu Informations- und Bewusstseinsspeichermedien.

MHC: Sicher – ich spreche nicht über die Hardware, sondern über die Software. Nicht über den Computer, sondern über die Technologien. Das „www“ hat schon sehr lange vor den Computern existiert.

AK: Wie gehst du methodisch vor, zum Beispiel, wenn du Videos von Interviews oder Ritualen aufnimmst. Gibt es Absprachen über ein gemeinsames Editieren, darüber, was präsentiert wird?

MHC: Die Absprachen werden am Anfang gemacht, sodass meine Partner*innen bereits, wenn das Video aufgenommen wird, wissen, was sie teilen möchten und was nicht.

AK: Für „Amazonia 2040“ und für jede Folge der „Hekatombe“-Trilogie generierst du neues Material mit Angehörigen unterschiedlicher Gemeinschaften. Geht es dir letztlich um eine Art Archiv von Ritualen und indigenem Wissen in Bezug auf die Natur?

MHC: Zunächst einmal: Alle Rituale sind auf die Natur bezogen, denn die indigenen Gemeinschaften haben kein dualistisches, sondern ein intrinsisches Verhältnis dazu. Wir sind die Natur. Die künstliche Unterscheidung in Natur und Kultur, die der Westen, vielleicht die Aufklärung, erfunden hat, besteht nicht. Für die europäische industrielle Revolution aber war diese Unterscheidung notwendig. Es brauchte sozusagen eine Gewissheit, dass man nicht sich selbst, sondern etwas scheinbar von uns Getrenntes, die Natur, ausbeutet und kaputt macht. Das Archiv sind die Menschen, mit denen ich arbeite, selbst. „Hekatombe“ ist eine Trilogie, in der ich diverse Reflexionen über Klimawandel und Artensterben durch indigene Rituale und Zeremonien zeige. Meine Partner*innen sind direkt von den Folgen des Klimawandels betroffen, viel mehr als beispielsweise europäische Gemeinschaften. Ihre Strategien und Sichtweisen präsentiere ich als eine notwendige Ergänzung der wissenschaftlichen, nicht-involvierten westlichen Perspektive sowie generell zur weißen Perspektive. So viele indigene Personen haben schon vor vielen, vielen Jahren Positionen wie zum Beispiel jene Greta Thunbergs vorweggenommen. Greta ist nicht die Erste. Nur wurden andere Stimmen aus weniger privilegierten Positionen bislang weniger gehört.

 

AK: Für „Hekatombe III“ hast du mit der Kággaba Community aus der Sierra Nevada gearbeitet. Sie haben bereits seit den 1980ern vor Klimawandel und anderen ökologischen Problemen gewarnt und zusammen mit der BBC den bekannten Film „From the Heart of the World, The Elder Brothers’ Warning“ gemacht. Wie gehen sie mit der Ignoranz der Welt und den immer rasanter werdenden Veränderungen um?

MHC: Da die Strategien auf Wechselseitigkeit beruhen, geht es nicht unbedingt um Veränderung, sondern eher um Festhalten an solchen jahrtausendealten Praktiken. Innovation, immer wieder etwas Neues erfinden zu müssen, ist eher westlicher Stil – beziehungsweise eine Problematik, weil wir dadurch in den Teufelskreis einer Schnelligkeit kommen, die uns komplett erschöpft. Wir müssen ständig Neues ausprobieren, ständig nach dem suchen, was wir noch nicht haben. Das ist ein Weg der persönlichen aber auch der ökologischen Ressourcenerschöpfung.

AK: Mit welchen konkreten ökologischen Problemen sind die zwei Gemeinschaften, die du für „Hekatombe III“ besucht hast, konfrontiert?

MHC: Beide leiden an den Folgen von Berg- und Mineralienabbau, der giftige Substanzen hinterlässt, das Wasser verunreinigt und die Erde unfruchtbar macht. Die Bergbau-Industrie ist tödlich für sie. Körperlich, aber auch spirituell. Denn auch Mineralien sind lebendig, auch Mineralien sind Teil der Umwelt. Die Wixarika sind außerdem noch einer anderen Situation ausgesetzt: dem Raubbau an Peyote-Pflanzen, einer Kaktusart, die für sie große Bedeutung in Bezug auf Spiritualität, Ernährung sowie die Fruchtbarkeit der Erde hat. Die unautorisierten Händler*innen, die die Pflanzen zu kommerziellen Zwecken entfernen, tun es zudem noch auf unkundige Art, das heißt, sie zerstören die Regenerationsfähigkeit der Pflanzen.

AK: Wenn du die Rituale indigener Gemeinschaften zeigst, hast du dann die Intention ihre Existenz zu betonen? Oder willst du erreichen, dass westliche Menschen daran teilhaben können – wäre das sozusagen Teil der Lösung?

MHC: Sicher, die westliche Welt muss Teil der Lösung werden. Aber es kann nicht um kulturelle Appropriation gehen, und auch nicht darum, dem Westen etwas aufzuerlegen. Das wäre ja dasselbe, wie das, was sie mit uns getan haben. Vielmehr fände ich es gut, wenn die Frage entsteht, wie der globale Norden seine Verbindung zur Natur gekappt hat, warum dort die Rituale ausgelöscht wurden, und was es wirklich braucht, um sie wieder herzustellen. Zu reflektieren, wie das Aufeinanderangewiesensein von Mensch und mehr-als-menschlicher Natur anerkannt und der mehr-als-menschlichen Welt wieder ihre Integrität zurück gegeben werden kann. Wenn die Spiritualität in Bezug auf die Natur nicht wiederhergestellt werden kann, wird auch die Verbindung auf einer körperlichen Ebene nicht mehr möglich sein.

AK: In „Hecatomb II“ gibt es ein Ritual mit einer weiblich gelesenen Person im roten Kleid und einer männlich gelesenen mit einem Hüft- und Lendenschmuck. Sie bewegen sich, was Rhythmus und Körperspannung angeht, sehr exakt. Wie lässt sich das lernen? Wie werden Rituale weitergegeben?

MHC: Was du erwähnst, ist ein Wind-Ritual der Wayúu. Rituale werden nicht geprobt. Sie werden vollzogen. Daher ist es so wichtig, dass sie erhalten und weitergegeben werden, sodass Kinder ab einem frühen Alter integriert werden. Man wächst in sie hinein wie in eine Sprache.

AK: Wie ist es in dem Fall, dass die Rituale verloren gegangen sind und durch Imagination rekonstruiert werden müssen?

MHC: Dazu fällt mir in erster Linie der Fall der zwei Masken der Kággaba ein, die gestohlen wurden und über 100 Jahre hier in Berlin waren. Im Juli dieses Jahres wurden sie restituiert. Leider waren die Masken vergiftet. Das Ethnologische Museum nennt das „präservieren“, es ist dazu verpflichtet. Einer der Diskussionspunkte, warum die Masken nicht zurückgegeben werden sollten, war das Argument, dass die Kággaba nicht in der Lage dazu wären, dieselben Präservationsmethoden anzuwenden, also sich nicht angemessen kümmern würden. Dabei waren diese Masken schon sehr, sehr alt, als sie gestohlen wurden. Nun ist die Aufgabe für die indigene Gemeinschaft wieder einen Bezug zu den Objekten aufzubauen und sich damit auseinanderzusetzen, wie sie damit umgehen, dass die Masken über das Gesicht gezogen werden, aber eben vergiftet wurden. Das ist sehr komplex.

AK: Du hast selbst eine verwestlichte Tanzausbildung in Kolumbien absolviert sowie westliche Tanztechniken an der Folkwang Hochschule studiert. Wie war es für dich danach, einen Zugang zu einer anderen Körperlichkeit zu schaffen?

MHC: Die Körperlichkeit ist eigentlich nicht das Problem. Auf dieser Ebene spüre ich einen intuitiven Zugang, ein Wissen meiner Vorfahren, das ich nur aktivieren muss. Schwieriger ist es ein anderes Denken zu lernen. Kolonialismus ist eine starke Gesinnung, es ist schwierig, sie aufzubrechen, sie zu verlernen, zu verstehen, dass die Dinge, von denen man denkt, dass sie wahr sind, es nicht unbedingt sind.

AK: Für „Hecatomb II“ hast du eine Art Kostüm – vielleicht hast du ein anderes Wort dafür – entworfen, das etwas stark Symbolisches zu haben scheint. Du bist ganz in Schwarz, hast die Hände und Füße schwarz gefärbt, den Blick verhängt mit schwarzen Muschelketten, trägst einen schwarzen Hut. Es ist schwer zu sagen, ob du eher ein Medium oder ein Mahnmal verkörperst, auf jeden Fall scheint eine schwere Zeugenschaft auf deiner Figur zu lasten.

MHC: Alle meine Bühnenfiguren bin ich selbst. Sie entstehen im Verhältnis zu den Videos, im Quartett wie in „Hecatomb II“ oder im Trio wie in „Hekatombe III“. Sie entstehen für exakt diese Konstellation. Ich verkörpere tatsächlich etwas Hybrides – denn das ist, was ich bin. Gleichzeitig versuche ich Formen und Erscheinungen zu finden, in denen ich Zugang zu anzestralem Wissen bekomme. Das ist für mich der einzige Weg zur Zukunft – eine Zukunft ohne Ökozid, ohne vollständige Klimakatastrophe. Ohne dieses Wissen gibt es keine Zukunft.

AK: Warum? Wissenschaftlich gesehen besteht doch auch ein Wissen darum, was uns bewahren könnte?

MHC: Ja, als reiner Verstandesinhalt. Aber es deutet nichts darauf hin, dass ein solches Wissen auch angewendet werden kann. Wissen und Tun gehen unendlich weit auseinander.

AK: Ich habe in einer wissenschaftlichen Arbeit gelesen, dass es in der Kággaba-Philosophie viel um „yuluka“, was mit Harmonie übersetzt wird, geht: in Bezug auf Dualismen, aber auch in Bezug auf die Anpassung auf in der Umwelt stattfindende Veränderungen. Können westliche Kulturen, die ja auch divers sind und nach positivem Wissen streben können, in Bezug auf den Klimawandel von solchen Fähigkeiten lernen? Ist es möglich, Brücken zu bauen?

MHC: Es gibt zweifellos Abläufe und Dynamiken der Natur, für die es schon seit Jahrtausenden Anpassungen und Flexibilität gibt. Die irreversible Schädigung, Vergiftung, gewaltsame und toxische Ausbeutung der Ökosysteme durch den globalen Norden ist eine andere Sache. Wenn die Praktiken von Unternehmen, Regierungen und Individuen des Westens nicht nur Veränderungen, sondern das Aussterben von Arten verursachen, wie können wir dann verlangen, dass die Gemeinschaften der Vorfahren mit dem Thanatos des globalen Nordens koexistieren? Ich glaube, Brücken können nur gebaut werden, wenn der globale Norden die Fähigkeit entwickelt, zuzuhören und seine Position – den Zustand wissenschaftlicher Überlegenheit, die Verleugnung der Spiritualität und des Wissens der Vorfahren – grundsätzlich revidiert. Brücken wird es nur geben können, wenn die Weisheit der indigenen Völker als Wissenschaft verstanden wird, die den Planeten vor der Einführung kolonialer Methoden in Balance gehalten hat. 

 

Hekatombe III – movements and rituals for the renewal of the world wurde am 2. & 3. Dezember 2023 im Radialsystem aufgeführt. 

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