Zwei Tage Tanz: Judith Sánchez Ruíz und Edivaldo Ernesto
Seit 2012 arbeiten Judith Sánchez Ruíz und Edivaldo Ernesto zusammen. Permanent rund um den Globus unterwegs, mal als Choreographen, mal als Tänzer, mal als Dozenten, bringt sie ihre Wahlheimat Berlin doch immer wieder hierher zurück. Im Rahmen des Performing Arts Festival zeigen die ehemaligen Tänzer der Compagnie Sasha Waltz & Guests, am 9. und 10. Juni ihre aktuellen Arbeiten im Radialsystem. Nach dem Duett Noise am Samstag folgen die zwei Solostücke Encaje und Tears am Sonntag. Wir haben mit den Performern gesprochen und sie zu den Stücken befragt.
Schnelligkeit scheint das Hauptthema eures Stückes „Noise“ zu sein. Kann das Publikum eine schnelle Performance erwarten oder eher das Spiel mit verschiedenen Geschwindigkeiten?
Judith: Wenn wir von Schnelligkeit sprechen, meinen wir die Schnelllebigkeit unserer Gesellschaft. Wie alles so rasant zu gehen scheint oder das Gefühl, dass alles schnell gehen muss: im Fernsehen, in den Medien, in der Öffentlichkeit, Technologie oder Wissenschaft. Auch wir, als Tänzer als Choreographen, alle wollen stark und schnell sein.
Edivaldo: Wie Judith schon gesagt hat, nutzen wir den Rhythmus der Schnelle als Referenz für das Stück. Trotzdem gibt es sehr viel Variation. Es gibt nicht eine durchgehende Linie und nicht nur energiegeladene hoch dynamische Bewegungen. Aber was es auf jeden Fall gibt, auch wenn die Geschwindigkeit abwechslungsreich ist, ist Intensität. Wir mögen sehr ruhige intensive Momente, die unabhängig sind von den schnellen und langsamen Bewegungen. Wie Judith bereits sagte, ist Schnelligkeit trotzdem eines der Richtung gebenden Elemente von „Noise“. Wie sich Dinge durch unser Leben und unseren Alltag bewegen. Es wird nicht nur flache oder schnelle Dynamiken geben, sondern das Publikum kann verschiedene Tonalitäten erwarten.
J: „Noise“ handelt vom Drang nach Aufmerksamkeit. Schau mich an, meine Stärke – Youtube, Instagram. All diese Öffentlichkeit, die wir und auch „normale“ Personen erleben. Der Drang, sich selbst zu zeigen.
Als zwei People of Colour, von verschiedenen Kontinenten und aus verschiedenen Ländern, spielen wir mit dieser Aufmerksamkeit. Wir spielen mit der Spannung und präsentieren dem Publikum dadurch unseren Standpunkt. Man hat dieses Spiel von „Du präsentierst deinen Standpunkt“, „Ich präsentiere meinen Standpunkt“. Wir verteidigen dieses Verlangen nach Stärke, nach „Schau mich an“ und „Sag das Jetzt.“ Ein großer Teil des Stücks und seiner Struktur basiert auf diesem Bedürfnis nach Aufmerksamkeit und Stärke.
Im Ankündigungstext zu „Noise“ schreibt ihr, dass die Bewegungen in dem Stück „spontan, jedoch wie ein verwobenes Netzwerk aus purem Instinkt, ohne wie eines zu scheinen“ sind. Wie erschafft ihr diese nur scheinbar geplante Form des Tanzes?
E: Wir haben eine Art Linie. Man kann es nicht wirklich eine Choreographie nennen, aber eine Linie, die festlegt, wo wir uns berühren, so dass wir wissen, wo wir sind. Aber trotzdem ist jede Bewegung, die wir präsentieren, komplett roh. Sie ist nur in diesem Moment und passiert nur jetzt. Die Bewegungen sind nicht wirklich geplant. Was geplant ist, ist die Form der Energie in diesem speziellen Moment, in dieser Sekunde.
Wir trainieren viel mit Improvisation. Das ist auch der Grund, warum wir uns zutrauen, eine Performance oder die Choreographie einer Performance aus dem Moment zu erstellen, und vor Publikum so zu präsentieren, als würden wir seit längerer Zeit an ihr arbeiten. Manchmal und vor allem in einem einstündigen Stück, muss man trotzdem Markierungen setzen, so dass man in einem Stück wie „Noise“, mit dem wir auf Tour sind, auch weiß, wo wir hingehen und welchen Übergang wir machen. Aber das ist alles, was wir wissen. Die Form der Bewegung, was zu welcher Zeit eintreten wird, ist komplett ungeplant.
J: Grundsätzlich haben wir eine sehr starke Struktur und Komposition im Raum und mit den Objekten, die wir nutzen, aufgebaut, mit den Zeitungen, den Stühlen und dem Tisch. Wie Edivaldo sagt, nutzen wir die Markierungen, die Stichwörter, die Musik und die Ruhe dafür. Gleichzeitig sind wir in der Spannung und in der Intensität unseres Vokabulars sehr fokussiert. Natürlich verlassen wir uns dabei sehr auf unseren Instinkt und die Verspieltheit zwischen uns. Wir hören einander zu und gleichzeitig entwickeln wir spontan, wie Edivaldo sagte. Alles, was kommt, ist aus dem Moment erzeugt und wir wissen, dass wir es herausholen oder begrenzen können. Es geht sehr viel um Instinkte und die Verspieltheit der Improvisation und ihrer Struktur.
„Encaje“ Ist dein Solostück, Judith. Als Inspirationsquelle nutzt du die Werke der Romanautorin Anaïs Nin, die für ihre Tagebucheinträge bekannt ist. Wie übersetzt du die Idee Nins, einer sich konstant verändernden Person, in den Tanz?
J: „Encaje“ basiert auf Anaïs Nin, die sehr viel Tagebuch schrieb und mit der Idee der Heuchelei und Scheinheiligkeit spielte. Das Stück behandelt meine eigene Scheinheiligkeit. Dinge, von denen ich gesagt habe, dass ich sie niemals tun würde, aber trotzdem tue – bewusst und unbewusst. Ich habe versucht, mich über mich selbst lustig zu machen bzw. mit der Idee dahinter als Rahmenidee zu spielen. Davon ausgehend setzte ich mich ans Konzept: Wie kann ich das Tagebuch nutzen? Wie kann ich jeden Tag Material präsentieren, es auswählen und überarbeiten, es zusammenstellen und in die Struktur einbinden?
Der andere Teil, der mich stark vorantreibt, ist die Idee des Radiosystems. Es ist, als würde man das Radio auf verschiedene Sender stellen. Ich finde, dass wir Frauen eine konstante, stündliche, tägliche oder auch monatliche Veränderung in unserer Stimmung haben. Das wollte ich präsentieren, da es im Moment ein Teil meines Lebens ist. Daraus wollte ich Bewegung kreieren. Also wählte ich Themen und ihre Auswirkungen aus, durch die ich mich bewege.
Als Choreographin bin ich sehr daran interessiert eine Choreographie zu präsentieren, die nicht nur den Mechanismus des Erinnerns nutzt, sondern eine Art und Weise, bei der man ein Thema hat und es entwickelt. Man nutzt eine sehr klare Struktur, durch die man sich bewegt, präsentiert das Thema und spielt mit einer Seite von ihm und dann greift es über und entwickelt sich weiter. Es erzeugt diesen Wechsel von Stimmung und ständiger Veränderung. Ich glaube, dass das in einer Art sehr feminin ist. Diese aufgestaute Energie. Das Stück ist in seiner Choreographie, den Bewegungen und seinen Vokabeln, ziemlich genau über diese Veränderung der Stimmung. Man geht sehr stark in eine Emotion, ist sehr traurig oder sehr leicht, sehr feminin und sehr weich.
Edivaldo, dein Solostück heißt „Tears“ und es scheint, dass der Zuschauer eine große Rolle spielt. Du sagt, du lässt ihn „berühren“. Also was genau erwartest du von ihnen?
E: Natürlich ist das nicht 100%-ig korrekt, aber die Idee ist, näher am Zuschauer anzukommen. Den Besucher mit dem zu berühren, was dem Charakter in „Tears“ passiert.
Das Thema ist im Endeffekt sehr emotional. Ich weiß, wo es herkommt, aber als Zuschauer kann man eher eine abstrakte Energie erkennen. Man merkt, dass den Charakter etwas beschäftigt, er befindet sich nicht in seiner Komfortzone. Etwas scheint nicht an seinem Platz zu sein und das beunruhigt ihn.
J: Es gibt sehr viel Zweifel in dem Stück.
E: Zweifel und eigentlich klare Dinge, die sich plötzlich verändern und er versteht nicht, warum diese sich ändern. Er kommt in einen Zustand, in dem sein Charakter das Gefühl hat, dass wenn er etwas tut, es falsch ist, aber wenn jemand anderes dasselbe in der gleichen Art und Weise tut, ist es richtig. Das stört ihn. Er versteht nicht, warum es hier richtig ist und dort falsch.
Zum Beispiel, könnte ich im Flugzeug laut husten und, vielleicht weil ich schwarz bin, werden Menschen mich ansehen und sich fragen: Was ist mit ihm? Aber wenn ein Teenager oder ein Kind hustet, werden Menschen sie anders ansehen. Auch wenn es ein Erwachsener ist, der anders ist als ich, werden sie ihn anders wahrnehmen. Nur wegen einem anderen Ton im Haar oder der Farbe etc. Diese Auswirkungen beeinflussen den Charakter im Stück sehr und er explodiert wegen ihnen. Das ist der Moment, in dem er das Publikum einnimmt.
Es passiert sehr oft, dass, wenn ich mit Publikum performe, Menschen emotional berührt sind von dem, was passiert. Durch die Intensität, die Bewegung, die Emotionen in jedem Teil des Stückes. Der Zuschauer kann es mit seinem alltäglichen Leben verbinden. Aber es ist nicht so, dass das gesamte Publikum physisch berührt wird.