Wozu Kritik? Oder was heißt und zu welchem Ende praktiziert man Kulturkritik?
Digitale Debatte in drei Folgen
Während der Pandemie-Zeit sind die Rezensionen in Tageszeitungen und Radiosendungen weiter zurückgegangen. Ohnehin steht die Kunstkritik als eitle Gattung immer wieder selbst in der Kritik. Steht die aktuelle Situation nun für den Schwanengesang? Zeit zumindest für eine Inventarisierung: Worüber sprechen Kulturjournalist*innen (zu wenig)? Was kann Kritik in der Form von Rezensionen und darüber hinaus leisten? Wie ist das Verhältnis von Kritik und Selbstkritik? Wer spricht oder schreibt wie über wen? Wer zahlt dafür? Und welche Rolle sollen kulturelle Institutionen bei der Klärung dieser Fragen spielen?
In drei digitalen Panels diskutieren Kulturjournalist*innen, Dramaturg*innen, Philosoph*innen und Medienmacher*innen den Stand der Kritik und den Kulturjournalismus der Zukunft.
Konzept Astrid Kaminski
Written Keynote Sanjoy Roy
Panel I & II auf Deutsch, Panel III auf Englisch.
Di 08 12 2020 17 Uhr
Die Kritik als feuilletonistisches Format ist stilistisch eine der freiesten journalistischen Disziplinen. Gleichzeitig wird extrem viel von ihr auf engem Platz verlangt. Es sei konstitutiv für die Kritik „zwangsläufig an der Komplexität des Vorgangs zu scheitern“, sagt der Performer und Publizist Falk Rößler im Podcast „Klima der Angst III“. Er fügt hinzu: „Ich würde mir nur wünschen, dass man diese aus der Ausweglosigkeit operierende Tätigkeit als solche tragische Tätigkeit versteht und nicht unbedingt als eine Herrschaftsform.“ Im ersten Panel diskutieren Janis El-Bira, Esther Boldt, Pablo Larios und Christiane Lutz, als „tragische Helden und Heldinnen“ mit den Moderatorinnen Susanne Burckhardt und Elena Philipp ihren Anspruch an das eigene Schreiben und geben Einblicke in ihre aktuelle Arbeitspraxis.
Christiane Lutz, Redakteurin Süddeutsche Zeitung
„Sehen, was gut war.“ – Warum Subjektivität wichtig ist, und was es bedeutet, sie auszuhalten.
Esther Boldt, Tanz- und Theaterjournalistin, Mitbegründerin und Leiterin der Theaterjournalismus-Akademie der Freien Produktionshäuser
„Vom Sehen zum Urteilen“ – Wie gehen Kritiker*innen mit blinden Flecken bei der Urteilsbildung um?
Pablo Larios, Chefredakteur Frieze
„Cancel Culture“ – Die vermeintliche (Ohn-)Macht der Kritik.
Janis El-Bira, Redakteur Deutschlandfunk / Nachtkritik, Podcaster
„Durchschaut!“ – Über Ideologiekritik in Rezensionen, was sie will und ob sie wieder verschwinden sollte.
Im Gespräch mit Susanne Burkhardt, Redakteurin Deutschlandfunk Kultur, und Elena Philipp, Redakteurin nachtkritik.
Biografien der Panel-Teilnehmer*innen
Janis El-Bira studierte Philosophie und Geschichtswissenschaften in Berlin und arbeitet seither als Journalist mit Theaterschwerpunkt. Er ist Redakteur bei nachtkritik.de und moderiert das Theatermagazin „Rang 1“ im Deutschlandfunk Kultur. Daneben Texte und Beiträge für die Berliner Zeitung, den Tagesspiegel, Perlentaucher, SPEX und SWR2. Leitet seit 2016 das „Theatertreffen-Blog“, das journalistische Nachwuchsprojekt unter dem Dach der Berliner Festspiele.
Esther Boldt arbeitet als Autorin, Tanz- und Theaterkritikerin für Medien wie nachtkritik.de, Theater heute, etcetera, tanz Zeitschrift und den Hessischen Rundfunk. Sie verfasste Essays über zeitgenössische Ästhetiken und ist in zahlreichen Jurys tätig, u.a. beim Else Lasker-Schüler Dramatikerpreis und bei Tanzpakt Stadt Land Bund. Seit 2019 leitet sie gemeinsam mit Philipp Schulte die Akademie für zeitgenössischen Theaterjournalismus, initiiert vom Bündnis der Produktionshäuser.
Pablo Larios, geboren in Honduras, aufgewachsen in den USA, studierte Vergleichende Literaturwissenschaften, lebt in Berlin und schreibt sowohl Romane als auch Kunstkritiken, seit 2 Jahren ist er Chefredakteur des Kunstmagazins Frieze.
Christiane Lutz hat Germanistik, Theaterwissenschaft und Anglistik an der LMU München studiert und 2010 mit Magister abgeschlossen. 2012 absolvierte sie ihre journalistische Ausbildung Deutschen Journalistenschule in München. Seit 2013 ist sie bei der Süddeutschen Zeitung Redakteurin und schreibt dort vor allem über Theater.
Susanne Burkhardt studierte Kulturwissenschaft, Betriebswirtschaft und Theaterwissenschaft an der Humboldt-Universität Berlin und in London (Middlesex University). Sie ist Diplom-Medienberaterin und begann ihre Radio-Karriere als Hörspielregieassistentin beim Sender Freies Berlin (später RBB). Nach einem Volontariat beim Deutschlandradio ist sie seit 2001 Redakteurin, Autorin und Moderatorin beim Deutschlandfunk Kultur („Fazit“, „Rang 1 – Das Theatermagazin“, „Der Theaterpodcast“).
Elena Philipp studierte Theaterwissenschaft und Komparatistik. Sie ist Redakteurin bei nachtkritik.de und tanzraumberlin und schreibt als Kulturjournalistin unter anderem für tanz und die Berliner Zeitung. Gemeinsam mit Susanne Burkhardt ist sie Host des monatlichen Theaterpodcast, einer Kooperation von nachtkritik.de und Deutschlandfunk Kultur. Im Wintersemester 2020 haben die beiden die „Anna-Vandenhoeck-Gastdozentur“ der Universität Göttingen inne.
Fr 11 12 2020
Kritik ist ein Tanz ums Goldene Kalb. Gegenläufig zum Sterben der Zeitungskritik stehen kritische Haltungen hoch im Kurs. Alle kritisieren alle. Kritik wird zur Waffe; Selbstkritik zur Attitüde: Gibt es eine Chance, aus den machtpolitischen Endlosschleifen einer Kritik der Kritik der Kritik auszusteigen, und wie sähe die entsprechende Praxis dazu aus? Im Gespräch mit den Moderator*innen Mohamed Amjahid und Elisabeth Nehring diskutieren Dorian Astor, Nikita Dhawan und Chris Standfest im zweiten Panel verschiedene Positionen zum Umgang mit Kritik und erproben den Ausnahmezustand: das Zuhören.
Chris Standfest, Dramaturgin, Kuratorin ImPulsTanz
„Welt ohne Außen und Critical Joy“ – Ist es die Aufgabe des Theaters, seine kritischen Diskurse selbst zu produzieren?
Nikita Dhawan, Institut für Politikwissenschaften Universität Gießen
„Die Aufklärung vor den Europäern retten“ – Dekolonisierung und die Kunst der Selbstkritik
Dorian Astor, Philosoph, Autor, Dramaturg
„Mehr Liebe!“ – Von der Schärfe der Kritik zur Anmut der Postkritik
Im Gespräch mit Mohamed Amjahid, Journalist und Autor, und Elisabeth Nehring, Journalistin und Kulturpolitische Moderatorin.
Biografien der Panel-Teilnehmer*innen
Dorian Astor ist ein französischer Philosoph und gilt als Nietzsche-Spezialist. Er war tätig an der Universität Sorbonne Nouvelle Paris und an der Universität Marc Bloch Straßburg. Als freiberuflicher Autor publiziert er zahlreiche Essays, kritische Ausgaben und Übersetzungen. Schwerpunkt seiner aktuellen Forschung ist Perspektivismus bei Leibniz, Nietzsche, Whitehead und Deleuze. Er hat in Paris, Amsterdam, Berlin und Straßburg gewohnt und lebt jetzt in Südfrankreich. Zuletzt erschien “La passion de l’incertitude”, Observatoire, 2020.
Nikita Dhawan ist Professorin am Institut für Politikwissenschaften und Gender Studies an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Ihre Forschungs-und Interessenschwerpunkte liegen in den Bereichen des Transnationalen Feminismus, der Globalen Gerechtigkeit, der Menschenrechte sowie der Demokratie und Dekolonisierung. Sie erhielt 2017 den Käthe Leichter-Preis für ihre Forschungen im Bereich Frauen- und Geschlechterforschung sowie für die Förderung der Frauenbewegung und die Verdienste um die Geschlechtergleichstellung.
Chris Standfest ist Kuratorin und Dramaturgin, Wien. Studium u.a. von Germanistik, Gender und Cultural Studies (FU Berlin und Uni Lancashire), sowie Trainings und kollektive Projekte in unterschiedlichen Kontexten. Über die Jahre diverse szenische Arbeiten und Lehraufträge, Jurytätigkeiten und Publikationen. Als Performerin und Dramaturgin arbeitete sie intensiv mit theatercombinat/Claudia Bosse und in eigenen und kollaborativen Projekten. Seit 2013 Dramaturgin des „ImPulsTanz – Vienna International Dance Festival“, dort auch Kuratorin für künstlerische Kooperation mit dem mumok, Wien und künstlerische Leitung der „[8:tension] Young Choreographers‘ Series“.
Dr. Elisabeth Nehring, Autorin, Tanzkritikerin, kulturpolitische Moderatorin und Koordinatorin. Seit 2019 leitet sie die Fachstelle Tanz Mecklenburg-Vorpommern. 2018 steuerte und koordinierte sie im Team den Run den Tisch Tanz in Berlin, einen partizipativen Prozess unter breiter Beteiligung von Kulturpolitik, Verwaltung und Tanzexperten zur Entwicklung eines Konzepts für den Tanz in Berlin. Seit 1999 arbeitet sie als freie Journalistin und Kritikerin für (über)regionale Rundfunkanstalten (u.a. Deutschlandfunk, Deutschlandfunk Kultur, WDR) sowie Print- und Onlinemedien. Elisabeth Nehring moderiert öffentliche Gespräche und ist und war Mitglied mehrerer Jurys.
Mohamed Amjahid wurde als Sohn sogenannter Gastarbeiter*innen 1988 in Frankfurt am Main geboren, die Schule besuchte er bis zum Abitur in Marokko. In Berlin und Kairo studierte er Politikwissenschaften und forschte an verschiedenen anthropologischen Projekten in Nordafrika. Schon während des Studiums arbeitete er als Journalist, unter anderem für die taz, die Frankfurter Rundschau und den Deutschlandfunk. Amjahid volontierte beim Tagesspiegel in Berlin. Danach arbeitete er als politischer Reporter für Die Zeit. Derzeit schreibt er an mehreren neuen Buchprojekten. Er ist Fellow im Thomas Mann House in Los Angeles.
Di 15 12 2020
„Manche sehen im Feuilleton kontinentaleuropäischer Prägung bereits eine Art UNESCO-Welterbe, das es unter Schutz zu stellen und staatlich zu alimentieren gilt“, schrieb der Journalist und Künstler Jörg Scheller zu Beginn der Spielzeit im Magazin des Schauspiel Zürich. Wie auch viele andere Kulturinstitutionen kommt das Theater dem Staat zuvor und greift selbst in die Tasche, um Kritiken und ein Schreiben über Kunst möglich zu machen. Ist diese Form der Unterstützung hilfreich oder hinderlich für Autor*innen und Journalist*innen sowie die Gründung neuer, eigenständiger Medien? In Panel 3 diskutieren die Medienmacher*innen, Unterstützer*innen und Autor*innen Lynn Berger, Erica N. Cardwell, Lukas Harlan und Alina Kolar mit den Moderator*innen Elisabeth Nehring und Elena Philipp neue Organisations- und Finanzierungsformen und deren Auswirkungen auf Texte.
Erica N. Cardwell, Journalist & Author, a.o. BOMB & Hyperallergic
“Who we are“ – Which policies do magazines have towards writers and how do they affect the writing?”
Alina Kolar, Founder Arts of the Working Class
“The artist Union“ – How new distribution and financing systems influence the content.
Lukas Harlan, program director Schöpflin-Stiftung
“Providing Money“ – What is the idea behind non-profit journalism? Which place does it give to culture?
Lynn Berger, De Correspondent, staff member Care
“Using Money in member based journalism” – Which obligations does it contain if you are paid by your readers?
Sanjoy Roy, Springback Magazine, Founding editor
“Giving support or pulling the strings“ – How to deal with funding obligations at the editorial board?
Talking to Elena Philipp, staff member nachtkritik.de, and Elisabeth Nehring, radio journalist und outreach developer
Biografien der Panel-Teilnehmer*innen
Lynn Berger ist Redakteurin der niederländischen Journalismusplattform De Correspondent und deckt dort den Bereich Care ab. Zuvor berichtete sie über Kultur für De Correspondent sowie für andere Publikationen. Ihr erstes Buch „Second Thoughts: On Having and Being a Second Child” analysiert Familienbeziehungen und wird im Frühjahr 2021 in Großbritannien und den USA erscheinen. Sie hat an der Columbia University in Kommunikationswissenschaften promoviert und lebt in Amsterdam, Niederlande.
Erica N. Cardwell ist Autorin, Kritikerin und Pädagogin und lebt in Brooklyn, New York. Sie schreibt oft über Gedrucktes, Archivmedien, visuelle Kultur und interdisziplinäre Performance. Ihren primären kritischen Ansatz bezieht sie aus dem Ansatz der Schwarzen feministischen Theorie. Ihre Arbeiten wurden in BOMB, The Believer, Brooklyn Rail, Frieze, CULTURED, Hyperallergic, Green Mountains Review, Passages North und anderen Publikationen veröffentlicht. Zuletzt wurde sie ausgewählt, der Queer Art Mentorship Fellows Cohort beizutreten. Derzeit unterrichtet sie Schreiben und soziale Gerechtigkeit an der New School.
Lukas Harlan ist Programmleiter bei der Schöpflin Stiftung und für die Bereiche „Gemeinnütziger Journalismus“ und „Schöpflin Bio-top“ verantwortlich. In den letzten 15 Jahren hat er als Sozialunter-nehmer, Kultur- und Bildungsmanager gearbeitet und hält einen Master in Public Policy.
Alina Ana Kolar ist Herausgeberin und Redakteurin von Arts of the Working Class. Als zeitgenössische Kunsthistorikerin, spezialisiert auf politische Semiotik visueller Kulturen, arbeitet sie an der Schnittstelle von Kunst, Aktivismus und sozialem Wandel.
Sanjoy Roy (London, UK) schreibt seit 2002 für den englischen Guardian über Tanz und ist Gründungsredakteur des Springback Magazine, das 2018 von Aerowaves Europe initiiert wurde. Er hat Texte in anderen Publikationen wie der New York Times, New Statesman, Dance Gazette, Pulse und Dancing Times veröffentlicht und ist London-Korrespondent der Zeitschrift Dance International. Er studierte zeitgenössischen Tanz am Trinity Laban Conservatoire, London. Danach war er 10 Jahre lang Produktionsredakteur und Designer bei Dance Books Ltd. Er unterhält ein Online-Archiv veröffentlichter Texte auf sanjoyroy.net.
Konzept
Astrid Kaminski schreibt als Journalistin, Autorin und Redenschreiberin.
Sie entwickelt und moderiert öffentliche und dialogische Formate im Bereich Kreatives Schreiben, Kunst- und Gesellschaftskritik – darunter in Zusammenarbeit mit dem Tanzbüro Berlin die Serien „Blattkritik“ (2018-2020 an verschiedenen Berliner Theatern) und „Letters Of“ (Love, HAU Hebbel am Ufer/Volksbühne Berlin, Roter Salon, 2019). 2019 entstand ihre Lecture-Performance „Tod einer Kritikerin“. Als Mitherausgeberin verantwortete sie zuletzt den Essayband „Recipes for the Future“ (Onomatopee, Eindhoven 2020).
Credits
Eine Kooperation des Tanzbüro Berlin mit dem radialsystem und dem Dachverband Tanz Deutschland.
Präsentiert von tanzschreiber.de
Eine Begleitveranstaltung zu tanzschreiber.
tanzschreiber ist ein Modul von „Attention Dance II“, einem Projekt des Tanzbüro Berlin, getragen vom Verein Zeitgenössischer Tanz Berlin e.V. Das Projekt wird von 2018-2021 gefördert durch den Europäischen Fonds für regionale Entwicklung (EFRE) und die Senatsverwaltung für Kultur und Europa.
Herzlichen Dank an Ricardo Carmona, Mariama Diagne, Lukas Harlan, Saskia Hödl, Louise Trueheart, Charles Uzor, Sanjoy Roy/Springback Magazine sowie Elisabeth Nehring und Elena Philipp.