Die Opernsängerin Derya Atakan ist dem Radialsystem und zahlreichen anderen Kulturinstitutionen eng verbunden. Wir schließen uns ihrem Spendenaufruf an und teilen ihren sehr persönlichen Text zum Geschehen.
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Verwendungszweck: Erdbebenhilfe Hatay
Die Schnellstraße von Odabaşı
oder
ich spüre was, was ihr nicht seht
Von Derya Atakan
Viel zu lange habe ich gezögert, an den Geburtsort meiner Eltern zurückzukehren. Zwölf Jahre brauchte es, bis ich letztes Jahr im Sommer 2022 das erste Mal wieder nach Odabaşı - ein zu Antakya gehörendes Dorf in der Provinz Hatay - reiste, um die Familie meines Vaters wiederzusehen. Mein Vater war nach der Heirat mit meiner Mutter im Alter
von 30 Jahren in eine kleine unterfränkische Stadt gezogen, wo ich in den Neunzigern geboren wurde.
Antakya liegt im Süden der Türkei und ist die Hauptstadt der Provinz Hatay, welche zwischen der Mittelmeerküste und der syrischen Grenze liegt und geographisch den südlichsten Teil der Türkei bildet. Seit dem 16. Jahrhundert gehörte Antakya zum Osmanischen Reich und wurde in Folge des ersten Weltkriegs französisch besetzt. Von Damaskus verwaltet, behielt es seinen Status als autonomes Gebiet, bis 1938 der Staat Hatay mit Antakya als Hauptstadt ausgerufen wurde. Dieser wurde 1939 von der Türkei annektiert.
Die Bevölkerung setzt sich im Süden mehrheitlich aus arabischen Aleviten und griechischstämmigen Christen zusammen. Außerdem existieren in dem Dorf Vakıflı eine armenische sowie eine jüdische Gemeinde. Im Norden leben neben türkischen Sunniten auch Kurden, die vermehrt aus Südostanatolien an die Mittelmeerküste übersiedelten. Zudem befindet sich im Landkreis Altınözü mit Tokaçlı das einzige größtenteils von arabischsprachigen Christen bewohnte Dorf der Türkei, deren Dialekt zum Nord-Levantinischen gehört. Seit Jahren ist die Region Zufluchtsort unzähliger syrischer Bürgerkriegsflüchtlinge.
Ich erinnere mich an frühe Identitätskrisen in meiner Kindheit, in der regelrechte Verwirrung herrschte: Warum hatten wir einen türkischen Namen, wenn die Muttersprache meiner Eltern Arabisch war? Warum war der Pass meines Vaters Türkisch, obwohl er in Deutschland lebte und warum sprach man in der Türkei neben Arabisch auch noch Türkisch? Und warum konnte eigentlich niemand dort Arabisch lesen oder schreiben?
Das kosmopolitische Antakya ist in der Türkei landesweit bekannt für seine arabischsprachige Bevölkerung und beliebt für seine phänomenale Kulinarik. Überhaupt war während meines Aufenthaltes 2022 das gemeinschaftliche Essen ein zentraler Bestandteil, der mich in Erinnerungen schwelgen lässt.
Aber etwas machte mich stutzig: Oftmals ertönte mehrmals am Tag der Gesang der Muezzin. Ich konnte mich bei bestem Willen nicht daran erinnern, dass ein Muezzin in den Besuchen meiner Kindheit sang - und dann auch noch so ohrenbetäubend laut. Daran würde ich mich doch erinnern können.
So oft es finanziell möglich war, reiste unsere Familie in den bayrischen Sommerferien nach Odabaşı. Damals noch in das Geburtshaus meines Vaters, ein aus Lehm gebautes, einräumiges und einstöckiges Haus, in dem er mit seinen acht Geschwistern aufwuchs. Mein Großvater war Schäfer und starb, als mein Vater siebzehn Jahre alt war. Es heißt, er sei beim Hüten der Schafe vom Esel gefallen. Das Lehmhaus, welches ich aus den Sommerurlauben kannte, sollte ich aber ab der 2000er Jahre nicht wieder betreten. Anstelle des Geburtshauses sollte eine Schnellstraße gebaut werden, dies hatte die Regierung so beschlossen. Meine Familie und alle anliegenden Nachbarn wurden quasi vertrieben, um Platz für die geplante Straße zu schaffen. Ob oder wie hoch eine
Entschädigung von Seiten der Regierung damals war, kann ich nicht nachvollziehen. Über herbe Rückschläge, ungerechte Unterdrückung oder Schikane wird in meiner Familie grundsätzlich nicht geredet, viel mehr konzentriert man sich auf die Kraft des Zusammenhalts und das sich nach Vornerichten. Wenn ich an meine Familie denke, muss ich sofort an ihre unfassbare innere Stärke, ihre melancholischen Augen und ihre beeindruckende Resilienz denken. Sie sind genauso wie der starke Wind, der einem in Antakya um die Ohren fegt.
Also fand meine Familie ein neues Grundstück, baute ihr neues Zuhause peu a peu auf und war bis zur Zeit der Fertigstellung zunächst obdachlos. Im Sommer 2022 saß ich also zum ersten Mal als Erwachsene auf der Terrasse, schloss die Augen und lauschte dem widerspenstigen Wind. Nur durch ihn sind die heißen Temperaturen in Antakya im Sommer erträglich.
Die Schnellstraße, für die meine Familie vor über 20 Jahren zur Seite wich, um Platz zu machen, hat in der Nacht auf den 6. Februar 2023 durch das Erdbeben tiefe Risse bekommen. Das Dorf Odabaşı, in dem sie leben, liegt ca. 170 km entfernt von Kahramanmaraş, dem Epizentrum des Bebens. Mehrere Kontinentalplatten, die dort aufeinandertreffen, haben sich nur 18 km unter der Erdoberfläche jeweils in eine andere Richtung gedrängt.
Noch letztes Jahr stand ich im Antakya Museum Hotel und blickte auf eine 23 Jahrhunderte alte Geschichte. Beim Bau des Hotels im Jahr 2020 wurden zufällig archäologische Funde aus 13 verschiedenen Zivilisationen und Kulturen entdeckt. Neben dem römischen Bodenmosaik, welches zuvor der Boden eines Villenforums war, befindet sich dort auch ein seltenes Pegasus-Mosaik und eine Marmorskulptur des Eros. Die Freiluftgänge des Hotels, die Vordächer und Glasscheiben in den Zimmern sowie die öffentlichen Bereiche bieten einen Panoramablick auf die darunter liegende antike Stätte. Zudem bietet sich aus dem Hotel ein Blick auf die St. Peter Felsenkirche, welche als eine der ersten christlichen Kirchen gilt. Funde aus dem antiken Antiochia, einst die drittgrößte Stadt des Römischen Reiches und eines der ersten Zentren des Christentums. Einem Erdbeben zum Opfer gefallen und verschüttet. Gefunden im Jahr 2020 beim Bau eines Hotels.
Die Schnellstraße reiht sich ein in all die Gebäude und Krankenhäuser, die nun durch das Beben dem Erdboden gleichgemacht wurden. Die Familie meines Vaters hat wie durch ein Wunder überlebt. Sporadisch sind sie zu erreichen, die Netze sind zusammengebrochen, kein Wasser, kein Strom. Alles liegt in Schutt und Asche. Sie sagen immer wieder: Uns geht es gut, macht euch keine Sorgen. Wir hören Schreie, aber wir können nicht helfen. Menschen liegen verschüttet in Trümmern und wir können nicht helfen, wir benötigen Geräte, um die Trümmer wegzuschaffen. Und wir haben unser Zuhause verloren, das Haus ist zerstört. Und es kommt keine Hilfe. Wir sind allein.
Und ich sitze hier in Berlin und denke an den kalten, heftigen Wind, an die Minusgrade, denke daran, dass 30 Stunden nach dem Beben immer noch keine Hilfe in Odabaşı ankam. Ich muss daran denken, welchen Pyjama meine Tante Samiye in dieser Nacht trug und ob er warm genug ist, als sie sich vom Balkon nach unten rettete. Bisher konnte sie mir diese Frage noch nicht beantworten. Denn ich kann sie nicht erreichen. Von meiner Tante habe ich gelernt, Trauer mit Gesang zu bewältigen. Immer wenn die Sprachlosigkeit einsetzte, blickte sie wehmütig in die Ferne und begann zu singen. Ein heilsamer, kathartischer Akt für sie und alle, die sie umgeben. Wenn ich an sie denke, singt sie. Sie ist meine lebendige, anatolische Jukebox. Der Schmerz, den sie in ihrem Gesang verhandelt, ist möglicherweise älter als sie selbst. Per Nachricht erhalte ich folgende Nachricht von meinem Cousin: „Tante Samiye ist sehr traurig und still. Sie singt nicht.“
Ich muss nun an die Stimme des Muezzin denken. Ich hoffe inbrünstig, dass sie auch nicht zu hören ist, damit die Rufe der Verschütteten nicht zu überhören sind. Damit sie geborgen werden können, wenn es nicht schon zu spät für einige ist. Ich denke an die Stille, ja sogar stumme Verzweiflung meiner Eltern und aller in Deutschland lebenden Angehörigen. Ich denke an Onkel Ali, der mit seiner Familie als Selbstversorger
vom Anbau von Okraschoten und anderem Gemüse lebt. Alles komplett zerstört.
Die Menschen in und um Antakya haben seit jeher viele Widerstände erlebt und Krisensituationen überwunden. Das Ausmaß und die verheerenden Folgen des Bebens machen mich sprachlos. Die historische Altstadt Antakyas - komplett zerstört. Ich bekomme die auf social media geteilten Bilder von Leichenbahren - abgestellt vor dem eingestürzten Krankenhaus - nicht mehr aus dem Kopf. Die Menschen dort brauchen internationale Unterstützung und zwar so schnell wie möglich, denn die der eigenen Regierung kommt nicht, zu spät oder ist nicht ausreichend.
Ich spüre etwas Unbeschreibliches. Als gäbe es ein Deja-vu. Früh habe ich gelernt, dass Prioritäten unser Leben bestimmen. Das Leben und die Schicksale bestimmter Bevölkerungsgruppen sind aber keine Priorität für die Entscheidungen und das Handeln ihrer Regierung. Sie können sich nicht auf Unterstützung durch diese verlassen. In meinem Kopf schallt das Echo eines Satzes, der meine Kindheit prägte:
„Du kannst niemandem vertrauen, außer den Bäumen und Tieren.“
Die Opernsängerin Derya Atakan ist geboren und aufgewachsen in Unterfranken, lebt in Berlin und spricht deutsch, englisch, französisch, türkisch und arabisch und ist ausgebildete Opernsängerin.